Tom Bombadil

Tom Bombadil ist ein Natur- oder Waldgeist, von menschlichem Aussehen, der im Alten Wald wohnt und die Hobbits auf ihrem Weg nach Bruchtal zweimal rettet.

Tom Bombadil ist die vielleicht rätselhafteste Gestalt, die im HdR auftaucht. Sie beruht auf einem Gedicht Tolkiens aus dem Jahr 1934 und stellte darin die Verkörperung des »Geistes der schwindenden Natur rund um Oxford und Berkshire« dar (B, Nr. 19). Die Figur Toms ist also eigentlich gar nicht für Mittelerde erfunden worden, er wurde vielmehr in die Welt des HdR eingefügt (Vgl. B, Nr. 237), weil »es den Charakter schon gab und ich ein Abenteuer auf dem Wag passieren lassen wollte« (B, Nr. 153). Tom übernimmt aber auch die Rolle eines Rätsels: »Selbst in einem mythischen Zeitalter muss es ein paar Rätsel geben, so wie es sie immer gibt. Tom Bombadil ist eines (mit Absicht).« (B, Nr. 144).

Im HdR wird Tom denn auch rätselhaft dargestellt. Elrond, eines der weisesten Wesen Mittelerdes, weiß über ihn nur zu berichten, dass er, als er ihn vor vielen Jahren traf, »schon älter als alt« war und dass die Elben ihn »Iarwain ben-adar nannten«, den »Ältesten und Vaterlosen«. Tom selbst wird aber nicht geheimnisvoll, sondern vielmehr lustig und gemütlich beschrieben. Er ist quietschbunt gekleidet, immer gut gelaunt und Lieder singend und von tiefer Liebe zu seiner Partnerin Goldbeere, einer Wassernymphe, erfüllt. Aber als die Hobbits in seinem Haus sind, lässt Tom sich den Ring zeigen, setzt ihn auf – und nichts passiert. Gandalf sagt dazu später, »dass der Ring keine Macht über ihn hat«, denn »er ist sein eigener Herr und Meister«. Damit ist Tom allerdings das einzige Wesen in ganz Mittelerde, auf das der Ring keinen Einfluss hat. Auf Frodos Frage »Wer ist Tom Bombadil?« antwortet ihm Goldbeere nur »Er ist«. (HdR)

Viel ist über die Figur des Tom Bombadil spekuliert worden, entgegen der Absicht Tolkiens, der schrieb, dass man über Tom nicht zu philosophieren bräuchte (Vgl. B, Nr. 153). Tolkien hat sich dann aber doch näher über Tom ausgelassen, auch wenn Tom für die Geschichte des Rings »nicht wirklich wichtig« ist (B, Nr. 144). Tom ist nur eine Art »Kommentar« (Vgl. B, Nr. 144). In einer Geschichte, die vom Kampf zwischen Gut und Böse erzählt, stellt er eine »natürliche pazifistische Sichtweise dar, die immer auftaucht, wenn Krieg herrscht« (B, Nr. 144). Tom steht für eine andere Art und Weise zu leben – er steht für die Natur, die Gut und Böse nicht kennt. Allerdings verschweigt Tolkien mit der fröhlichen Figur Toms die Härte der Natur, die zwar wirklich keine Moralvorstellungen hat, aber auch gnadenlos selektiert.

Das hat die Interpreten nicht befriedigt. So wurde in der Folge munter weiterspekuliert. Aus den verschiedenen Interpretationen haben sich zwei als besonders hartnäckig erwiesen.

Die eine besagt, dass Tom die Verkörperung Ilúvatars oder sogar des christlichen Gottes ist. Sie stützt sich darauf, dass der Ring Tom nichts anhaben kann, dass Tom, wie Gott, aber nicht in den Kampf eingreift, weil die Sterbliche eigene Stärke beweisen müssen und dass Tom aber, wie Gott, Mitleid zeigt und den in Not Geratenen hilft. Dieser Sicht hat Tolkien selbst in einem Brief widersprochen (Vgl. B, Nr. 153) – allerdings nicht mit letzter Nachdrücklichkeit, denn er schreibt nur: »Sie sehen das zu ernst und Sie verfehlen auch den eigentlichen Punkt«.

Die andere Interpretation besagt, dass Tolkien sich mit Tom selbst in die Handlung geschrieben habe. Mir ist nicht bekannt, dass Tolkien dem ausdrücklich widersprochen hätte und ich glaube selbst, dass da etwas dran ist. Tom liebt die Natur, und dort den wilden Wald vor dem gezähmten Garten. Genau wie Tolkien. Tom schmiedet lustige Verse und singt und spielt den ganzen Tag. Das tat Tolkien natürlich nicht – aber er konnte so ausgelassen sein und war in diesen Momenten wohl auch am glücklichsten. Warum sollte Tom also nicht den schönen Zustand in Permanenz verkörpern. Tom steht für den Geist des ländlichen Englands, das Tolkien liebte. Und Tom hütet außerdem den alten Wald, den einzigen – außer Fangorn und Lóthlorien – der in Mittelerde noch die Kraft der alten Wälder aufweist. Beides war auch Bestandteil des Wesens Tolkiens, der sich immer gegen das moderne Leben wehrte, in dem er leben zu müssen glaubte: »So ist das moderne Leben. Mordor in unserer Mitte.« (B, Nr. 135). Tom ist der »Älteste und Vaterlose«, der »vor allem anderen« da war – wie der Zweitschöpfer vor seiner Schöpfung da ist und selbst, in der Rolle des Zweitschöpfers, vaterlos ist. Am wichtigsten aber: Der Ring hat keine Macht über den Autor – das ist klar. Aber der Autor hat auch nicht die Macht, den Ring zu vernichten oder zu beherrschen, denn dann gäbe es die Geschichte nicht. Dass Tom des Ringes nicht Herr ist, ist der Grund, warum Elrond nicht will, dass das Artefakt zu Tom geschickt wird. In dieser Interpretation sehe ich auch keinen Verstoß gegen Tolkiens Wunsch seine Schöpfung bloß nicht allegorisch zu lesen. Denn er spielt meines Erachtens nach nicht aus inhaltlichen Gründen auf seine eigene Person an. Er will dem Leser damit nichts sagen und keine Botschaft übermitteln. Nein, Tom ist ein kleines Porträt des Autors, dessen Lohn es ist, ein Teil seiner eigenen Zweitschöpfung sein zu dürfen – und für den Leser auf immer zu bleiben!

Autor: Frank Weinreich